Wenn der Markt zum Spiegel wird – Psychologische Reflexionen am Beispiel des MSCI All-Country World Index

© 2025 Andreas Heinz - (Bild wurde mit KI generiert)

 

In der Diskussion um Börsenpsychologie, Emotionen und rationale Anlageentscheidungen wird häufig über das Verhalten einzelner Marktteilnehmer, über Panik, Euphorie oder kognitive Verzerrungen gesprochen. Was jedoch selten in den Fokus rückt, ist die Frage, inwieweit ein globaler Index wie zum Beispiel der MSCI All-Country World Index nicht nur wirtschaftliche Entwicklungen abbildet, sondern auch psychologische Muster bündelt. Genau diese Überlegung möchte ich hier näher ausführen, mit allen Stärken und Schwächen, die sich daraus ergeben.

 

Der MSCI ACWI als Aggregat kollektiver Psychologie

Der MSCI All-Country World Index vereint über 2.800 Unternehmen aus 23 Industrie- und 24 Schwellenländern. Wer in diesen Index investiert, beteiligt sich nicht nur an der globalen Wirtschaftsentwicklung, sondern zugleich an der gebündelten psychologischen Verfassung der weltweiten Kapitalmärkte. Diese psychologische Aggregation kann als eine Art „mentales Weltportfolio“ verstanden werden, ein Spiegel kollektiver Erwartungen, Ängste und Reaktionen. Genau darin liegt seine Ambivalenz.

Auf der einen Seite wird der Index dadurch robust. Regionale Krisen, lokale Übertreibungen oder temporäre Euphoriewellen werden durch die Vielzahl konträrer Entwicklungen anderer Märkte abgefedert. Auf der anderen Seite wird der Index in Phasen globaler Krisen oder weltweiter Narrative anfällig. Die Diversifikation psychologischer Reaktionen bricht in diesen Momenten zusammen. Dann dominiert ein globaler Herdentrieb, der alle Bestandteile gleichzeitig erfasst, mit der Folge synchron fallender Kurse.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür war der Corona-Crash im März 2020. Innerhalb weniger Tage brachen weltweit alle Märkte gleichzeitig ein, unabhängig von regionaler Betroffenheit oder wirtschaftlicher Ausgangslage. Der psychologische Gleichklang war nahezu vollständig. Angst, Unsicherheit und Schutzreflexe führten zu einer synchronisierten Verkaufswelle, die sich in allen Segmenten des MSCI ACWI niederschlug.

 

Stabilität durch psychologische Breite

Es wäre ein Fehler, die psychologischen Schwankungen von Märkten als ausschließlich destruktiv zu betrachten. Die Vielzahl an Marktteilnehmern mit unterschiedlichen Zeithorizonten, Erfahrungen, Kulturen und Risikoneigungen führt unter normalen Umständen zu einer gewissen psychologischen Balance. Während ein Teil der Investoren zu Überreaktionen neigt, agieren andere besonnen oder konträr. Gerade in einem breit gestreuten Index wie dem MSCI ACWI wirken diese Unterschiede stabilisierend. In der Summe ergibt sich ein „Stimmungs-Mittelwert“, der sich als widerstandsfähiger erweist als die Stimmung in Einzelmärkten.

Wissenschaftlich bestätigt wurde dies unter anderem durch Langzeitstudien von Dimson, Marsh und Staunton (2023), die zeigten, dass global diversifizierte Indizes im historischen Vergleich geringeren Drawdowns unterlagen als einzelne Regionen. Dieser Effekt lässt sich auch zu einem Teil durch die psychologische Streuung erklären, nicht nur durch die ökonomische.

 

Verwundbarkeit durch kollektive Emotionalität

Diese Stabilität endet jedoch abrupt, sobald ein globales Narrativ entsteht, das eine emotionale Angleichung der Marktteilnehmer bewirkt. Solche Narrative sind typischerweise mit starker medialer Verbreitung, politischen Implikationen oder wirtschaftlicher Systemrelevanz verbunden. Finanzkrisen, Pandemien, geopolitische Eskalationen, all diese Ereignisse führen dazu, dass individuelle psychologische Unterschiede nivelliert werden. Die Märkte reagieren dann synchron. Aus psychologischer Breite wird psychologische Homogenität, ein Zustand maximaler Anfälligkeit.

Robert J. Shiller (2019) hat diesen Prozess eindrucksvoll beschrieben. Für ihn sind es nicht die Daten oder Fakten, die Kurse bewegen, sondern die Narrative, die daraus entstehen. Sobald diese Narrative global funktionieren, verliert auch ein Weltindex seine psychologische Schutzfunktion.

Denise Schull spricht in diesem Zusammenhang von einer kollektiven „emotionalen Signatur“, die sich in Kursverläufen niederschlägt. Emotionen seien nicht irrational, sondern Daten, nur eben emotional interpretierte Daten. Wenn diese Interpretation global gleichartig ausfällt, entsteht eine homogene emotionale Reaktion, die sich nicht mehr durch Diversifikation ausgleichen lässt. Genau das geschieht in Krisenzeiten: Der Index verhält sich wie ein einziger Markt mit einer einzigen Emotion – Angst.

 

Algorithmische Verstärkung der Psychologie

Diese Dynamik wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass ein Großteil des Handelsvolumens in globalen Indizes heute algorithmisch erfolgt. ETFs auf den MSCI ACWI sind nicht nur bei Privatanlegern beliebt, sondern auch integraler Bestandteil institutioneller Portfolios und quantitativer Strategien. Wenn Volatilität steigt oder Momentum kippt, reagieren diese Systeme nicht psychologisch, sondern mechanisch, allerdings in einer Art, die menschliche Verhaltensmuster imitiert und zugleich beschleunigt. Diese Imitation erfolgt nicht bewusst, sondern weil viele Algorithmen auf historischen Reaktionsmustern basieren, die durch menschliches Verhalten geprägt wurden, etwa der Reflex, bei fallenden Kursen Ausstiege zu erzwingen oder bei Trendbestätigungen weitere Käufe auszulösen.

Andrew Lo (2021) beschreibt diesen Effekt im Rahmen seiner Theorie der adaptiven Märkte: Finanzmärkte verhalten sich wie evolutionäre Systeme, in denen sich Verhalten anpasst, auch algorithmisches Verhalten. In Krisenphasen sind es nicht mehr einzelne Marktteilnehmer, die panisch verkaufen, sondern regelbasierte Systeme, die auf Signale reagieren, die von kollektiver Panik erzeugt wurden. Die Rückkopplung zwischen Emotion, Signal und Ausführung verstärkt den Absturz und wirkt gerade in globalen Indizes besonders ausgeprägt.

 

Marktpsychologie als systemisches Element

Ein breit gestreuter Index oder ein ETF-Portfolio ist mehr als ein Vehikel zur Risikostreuung. Es ist ein Spiegel der weltweiten Anlegerpsychologie. Seine Stabilität beruht auf der Vielfalt, seine Anfälligkeit auf der Synchronisation. Wer dies erkennt und in seine Überlegungen einbezieht, kann sowohl in ruhigen als auch in turbulenten Marktphasen klarer, gelassener und letztlich besser entscheiden.

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