Wer an der Börse investiert, denkt meist an das hektische Geschehen zwischen Opening Bell und Handelsschluss. Kurse schwanken, Nachrichten werden verarbeitet, Orders ausgeführt. Doch eine der bemerkenswertesten Beobachtungen der letzten Jahrzehnte findet außerhalb dieses Trubels statt: Ein erheblicher Teil der Renditen großer Indizes wie des S&P 500 entsteht nicht während der offiziellen Handelszeiten, sondern über Nacht – also zwischen dem Schlusskurs eines Tages und dem Eröffnungskurs des nächsten.
Zahlreiche empirische Studien und quantitative Analysen zeigen, dass seit den frühen 1990er-Jahren der Großteil der Kursgewinne am US-Aktienmarkt außerhalb der regulären Handelszeiten erzielt wurde. Während institutionelle Investoren tagsüber handeln, erfolgen Kursanpassungen oft in der Nacht – insbesondere als Reaktion auf Unternehmensmeldungen, makroökonomische Daten und internationale Entwicklungen.
Die Analyse historischer Kursdaten des S&P 500 ergibt ein klares Bild: Hätte ein Anleger zwischen 1993 und 2020 stets zum Schlusskurs gekauft und zum Eröffnungskurs am nächsten Handelstag verkauft, also nur über Nacht investiert, hätte er eine kumulierte Rendite von über 500 % erzielt. Hätte derselbe Anleger im gleichen Zeitraum nur tagsüber investiert – also zum Eröffnungskurs gekauft und zum Schlusskurs verkauft – wäre die Rendite nahe null oder sogar negativ gewesen. Diese Erkenntnis wurde unter anderem von Berkman, Koch und Tuttle (2012) sowie von Gao, Han und Xu (2020) wissenschaftlich bestätigt. Auch zahlreiche quantitative Strategen, etwa Meb Faber, haben diesen Effekt durch Backtests und Simulationen unabhängig voneinander nachvollzogen.
Die Ursachen sind vielfältig, doch einige Faktoren stechen hervor. Viele Unternehmen veröffentlichen Quartalszahlen oder wichtige Nachrichten nach Börsenschluss. Diese Informationen werden in der Nacht von algorithmischen Händlern und institutionellen Investoren eingepreist. Ereignisse an den asiatischen und europäischen Märkten beeinflussen die Eröffnung in den USA maßgeblich, werden jedoch nicht während der US-Handelszeiten reflektiert. Wer über Nacht investiert bleibt, trägt das Risiko unerwarteter negativer Ereignisse. Die daraus resultierende Unsicherheit wird durch eine Risikoprämie entlohnt. Viele Trends setzen sich nicht kontinuierlich fort, sondern springen in Form von Kurslücken – diese entstehen typischerweise über Nacht.
Die Übernachtrendite ist keine bloße Kuriosität, sondern ein struktureller Effekt mit potenzieller strategischer Relevanz. Dennoch sollte sie nicht isoliert betrachtet werden. Eine reine Overnight-Strategie ist mit operativen Risiken verbunden, etwa erhöhter Slippage oder Spread-Kosten bei Positionseröffnungen und -schließungen außerhalb der Haupthandelszeiten. Steuerliche Aspekte, insbesondere bei kurzfristigen Haltefristen, können die Nettorendite beeinflussen. Die Effektivität solcher Strategien hängt stark vom Marktumfeld ab und ist nicht in jedem Jahrzehnt gleich stark ausgeprägt.
Die Renditeverteilung an der Börse folgt nicht dem Intuitiven. Nicht die hektischen Handelsstunden, sondern die stille Phase über Nacht hat in der Vergangenheit den Löwenanteil der Kursgewinne generiert. Für systematische Anleger lohnt sich daher ein genauer Blick auf das Zusammenspiel zwischen Handelszeiten und Renditequellen. Wer verstehen möchte, wo Renditen wirklich entstehen, sollte sich weniger vom Tagesgeschehen blenden lassen und stattdessen analysieren, was passiert, wenn die Märkte schlafen.